„Raserei nach Sinn“

Der Sozialphilosoph Roland Baader warnt vor neuen totalitären Ideologien.

factum: George Orwell warnte in seinen Essays und Romanen („1984“, „Farm der Tiere“) vor Totalitarismus. Gerade Intel­lektuelle sind anfällig für totalitäre Ideo­logien wie den Stalinismus, so seine Be­obachtung. Teilen Sie seine Ansicht?

Baader: Ja. Orwell hat geschrieben, dass er mit seinem Buch „1984“ die totali­tären Ideen in den Köpfen der Intellek­tuellen nur „logisch zu Ende gedacht hat“. Er hat auch gesagt: „Einige Ideen sind so absurd, dass nur Intellektu­elle an sie glauben konnten.“ Intellek­tuelle sind aber nicht nur passiv anfäl­lig für totalitäre Ideen; sie gebären sie auch aktiv. Mit und nach der Franzö­sischen Revolution waren alle Schreckensregime der Neuzeit längst von eit­len Denkwerksburschen erdacht und propagiert worden, bevor sie von skru­pellosen politischen Machtfiguren in die Tat umgesetzt wurden. Sprach-Verbrechen gehen den Tat-Verbrechen vo­raus. Der satanische Erfolg des Marxismus und seiner Spielarten mit weltweit vie­len hundert Millionen Toten ist letztlich nicht Marx zuzurechnen, sondern der marxistischen Gefühlslage der schrei­benden und redenden Zunft. Natürlich gilt das nicht für alle Intellektuellen, aber für eine Mehrheit.

factum: Woran liegt das, was macht In­tellektuelle so empfänglich?

Baader: Das hat eine Vielzahl von Ursa­chen, die allerdings in komplexer Weise miteinander zusammenhängen. Da wäre zunächst das ganz gewöhnliche Streben nach Jobs zu nennen. Je kollek­tivistischer eine Gesellschaft wird, desto mehr bietet sie bürokratischen Funktio­nären Stellen und desto größer wird de­ren Macht und Einfluss. Eng damit in Zusammenhang steht der geistige Führungsanspruch der Denkwerker, ihr Monopolanspruch auf Intelligenz, Vernunft und Moral. Das hat sie in der Geschichte immer wie­der zu Reservearmeen der Revolution gemacht. Das begann schon mit Pla­tons Staatsmetaphysik, die nach Ernst Topitsch „eines der wichtigsten Einfallstore des Motivs des höheren Wis­sens in die abendländische Sozialphilosophie“ ist. Nach dieser Lehre ist das Wissen um das Wesen des Guten und Richtigen einer Elite von Philoso­phenkönigen vorbehalten, und dieser Umstand begründet deren uneinge­schränkten Herrschaftsanspruch – oder zumindest ihren alleinigen Sinnpro­duktions- und Sinndeutungsanspruch. Die falsche Frage wer herrschen soll, ist uralt. Und die richtige und wichtige Frage, wie man die Herrschaft von Men­schen über Menschen vermeidet oder begrenzt, wird viel zu sehr vernachläs­sigt.

factum: Warum sind nicht nur Intel­lektuelle, sondern ganz allgemein die Menschen so empfänglich für totalitäre Heilslehren? In Ihrem Buch „Totgedacht“ (Resch Verlag) sprechen Sie in diesem Zu­sammenhang von der „seelischen und metaphysischen Verzweiflung“.

Baader: Den Erlösungssehnsüchten der Menschen ist jeder Realismus hoff­nungslos unterlegen. Hinzu kommt die tief verwurzelte Suche nach dem Sinn des Daseins, aber auch die kons­titutionelle Illusionsbedürftigkeit der Menschen. Heilslehren wie der Sozia­lismus, der Kommunismus oder Nati­onalsozialismus tarnen sich als „Ver­nunftreligionen“. Statt der Verehrung eines jenseitigen Gottes kommt es da­bei zur Vergöttlichung von Staat und Po­litik und oft auch von politischen Figu­ren wie Stalin, Hitler, Mao, Pol Pot, Che Guevara, Kim II Sung usw.

Herbert Kremp hat einmal trefflich analysiert, dass die konstitutionelle Entfremdung des Menschen eine Heils-­und Erlösungssehnsucht auslöst und eine rastlose Sinnsuche in Gang setzt, geradezu eine ersatzreligiöse „Raserei nach Sinn“, wobei der Gesellschaftsprozess mit dem Sinn identifiziert wird. Er nannte das die tiefste Quelle aller Totalitarismen. Alle diesseitigen Heils- und Erlösungslehren, wie der Sozialismus und seine Spielarten, gehören dazu. Nicht nur Intellektuelle, sondern auch die meisten übrigen Leute hängen – mehr oder weniger bewusst – dem poli­tischen Machbarkeitsglauben im Sinne des rationalistischen Konstruktivismus an, von dem Friedrich A. von Hayek ge­sprochen hatte. Diese Ideologie meint, alles verändern zu müssen, was nicht rationalem Entwurf entstammt.

factum: Können Sie uns das genauer er­klären?

Baader: Der menschliche Verstand neigt zu der Überzeugung, die gesellschaftli­che Struktur und deren Institutionen und Regeln seien in der Vergangenheit bewusst gestaltet worden. Wenn etwas funktioniert, dann interpretiert es der Verstand als Erfindung vernunftbegab­ter Wesen und nicht als Ergebnis ei­nes spontanen Prozesses. Bei der Spra­che verstehen die meisten Leute noch, dass niemand sie erfunden oder ent­worfen hat und auch nicht die dahinter stehende Grammatik. Aber hinsichtlich der meisten anderen menschlichen Einrichtungen ist diese Einsicht nicht mehr vorhanden. Daher rührt dann der Glaube – besonders der Intellektu­ellen – man müsse alles bewusst ver­­ändern, was nicht rationalem Entwurf entstammt. Es ist der Glaube an die prinzipielle Machbarkeit der Welt. Man sieht Politik als Ordnung der Vernunft – und ungelenkte Wirtschaft als Chaos. Deswegen haben Demagogen leichtes Spiel mit den Menschen.

factum: Wie äußert sich dieses Denken heute?

Baader: Auch andere Formen des Mach­barkeitsglaubens gehören dazu – wie der Wohlfahrtsstaat, der Emanzipations- und Selbstfindungswahn, sowie der aggressive Ökologismus und Multi­kulturalismus. Dabei wird oft eine über­hebliche Hypermoral bemüht, was von Vera Lengsfeld einmal mit dem Satz be­dacht wurde: „Hypermoralisierung ist von der Entmoralisierung nicht weit entfernt.“ Intellektuelle treten in der Rolle einer hypermoralischen Priester­kaste auf. Robespierres „Tugendterror“ ist offenbar zeitlos. Al Gore ist ein typi­scher – und besonders skrupelloser – Vertreter dieser Priesterkaste.

factum: Wo sehen Sie in der heutigen Gesellschaft totalitäre Tendenzen? Wie empfänglich sind die westlich-freiheitli­chen Gesellschaften dafür?

Baader: Der Totalitarismus lauert in je­der Gesellschaft. Wir sind auf diesem Weg schon (wieder) weit fortgeschrit­ten. Der Zentralismus der EU und die Aufhebung der Gewaltenteilung im Brüsseler Rätesystem, die Gleichstel­lungsgesetze mit ihrer Aushebelung der privaten Vertragsfreiheit, der Gender-Mainstream-Wahnsinn mit seiner Leugnung der biologischen Naturge­setze, das immer dichter gezogene Netz zur Überwachung der Bürger, die Inst­rumentalisierung der Klima- und Ter­rorängste durch die Machteliten – all das sind Beispiele für Wegmarken auf diesem abschüssigen Pfad.

Die meisten Vordenker der Mensch­heit entwickeln geradezu einen Hass auf die Wahrheit. So erklärt sich zum Bei­spiel der Entrüstungssturm der Medien auf Björn Lomberg mit seinem Enthüllungsbuch „Apokalypse No!“ damit, dass mit der Publikation die Macht der verlogenen Sinnvermittler und Mensch­heitserretter geschwächt wird.

factum: Gibt es etwas, das den Menschen davor bewahren kann, ideologischen Rattenfängern zu folgen? Was stärkt den Menschen gegen Verjährbarkeit?

Baader: In geistiger Hinsicht würde vor allem eine Rückbesinnung auf das christliche Erbe des Abendlands helfen. Religion ist besonders wichtig, ja unerlässlich als Immunisierung gegen die genannte Erkrankung des Geistes am rationalistischen Konstruktivismus. Religion führt dazu, dass die gesell­schaftsbildenden und gesellschaftserhaltenden Verhaltensregeln und Tabus des „man tut“ und „man tut nicht“ frag­los gelten und bestehen bleiben, ohne dass sie in jeder wechselnden Situa­tion ihre verstandesgemäße und kurz­fristige Nützlichkeit beweisen müssten. Wer glaubt, ist weniger anfällig für die Vergötzung menschlicher Institutionen.

factum: Was ist der tiefste Grund für Ideologieanfälligkeit?

Baader: Ich zögere ein wenig mit der Antwort, denn sie ist spekulativ. Viel­leicht ist es der Hass vieler Intellektu­eller auf Zivilisation. Fortschritt und „westliche Werte“ sind letztlich eine ver­kappte Revolte gegen das Sterben-Müssen. Man möchte in einer atavistischen „Gemeinschaft“ aufgehen, die – da sie kein Individuum ist – auch nicht sterb­lich ist. Die subtile Verbindung zwischen dem christlichen Gott und dem (überwunde­nen) Tod wäre auch dann eine ultima­tive Rüstung des gläubigen Menschen gegen Verführung durch Ideologie.

factum: Herzlichen Dank für Ge­spräch.

Interview: Thomas Lachenmaier

aus:  factum 5/2009