Nachrufe: Solschenizyn und Rohrmoser

Alexander Issajewitsch Solschenizyn – Ein „großer Russe“ ist gegangen 

Am 3. August 2008 verstarb im Alter von 89 Jahren Alexander Issajewitsch Solschenizyn. Er wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verhaftet und wegen brieflicher Kritik an Stalin zu acht Jahren Haft verurteilt, die er in Zwangslagern, im Gulag, verbrachte. 1953 wurde er zwar aus der Lagerhaft entlassen, aber auf Lebenszeit verbannt. 1957 wurde die Verbannung aufgehoben und Solschenizyn rehabilitiert. Seine traumatischen Erlebnisse verarbeitete er in der Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, die er 1962 in der Literaturzeitschrift „Nowij Mir“ veröffentlichen durfte. Nikita Chruschtschow, der den Stalin-Kult beenden wollte, hatte die Publikation genehmigt.

Die Erzählung war eine Art Vorläufer für das 1974 erscheinende monumentale Werk „Archipel Gulag“, in welchem System und Schrecken der sowjetischen Straflager beschrieben wurden. Es zirkulierte zunächst als Untergrundpublikation. Der KGB bekam jedoch Wind davon und verhaftete eine der vier Frauen, die das Manuskript abgetippt hatten. Nach fünftägigem Verhör verriet sie das Versteck des Typoskripts und erhängte sich danach. Obwohl Solschenizyn einige Jahre vorher (1970) der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, wurde er im Februar 1974 aus der Sowjetunion ausgewiesen. Über Zwischenstationen in Deutschland bei Heinrich Boll und Zürich führte ihn sein Weg in die USA, wo er 17 Jahre lang abgeschieden lebte.

Solschenizyn wurde jedoch nie heimisch in den USA; er vermied das Erlernen der englischen Sprache und übte harsche Kritik an den „dekadenten“ und „materialistischen“ Demokratien des Westens. Stattdessen lobte er die Geistigkeit und Moral des Russentums. Nachdem er 1990 in Russland rehabilitiert worden war und die Staatsbürgerschaft zurückerhalten hatte, kehrte er 1994 in sein Heimatland zurück, zeigte sich dort aber enttäuscht über das Ausbleiben einer moralischen Erneuerung in der nachsowjetischen Gesellschaft sowie über die Westbegeisterung seiner Landsleute (die allerdings wenige Jahre später mit der Nato-Bombardierung Serbiens schlagartig erstarb). Die Zulassung des Musiksenders MTV und der Fast-Food-Kette „McDonalds“ geißelte er als „Versklavung Russlands durch den Westen“.

Es ist das bleibende Verdienst Solschenizyns, den vielen Bewunderern und Verharmlosern der Sowjetunion – auch und besonders unter den westlichen Intellektuellen – die Augen geöffnet zu haben hinsichtlich der Bestialität des Systems. Doch blieb seine Einstellung widersprüchlich. Er hat zwar unaufhörlich gegen den Totalitarismus angeschrieben, blieb aber Vertreter eines mächtigen und idealisierten Russlands, in welchem Askese, Moral, Glaube und Sittenstrenge die materiellen „westlichen“ Werte ersetzen sollten. Die Tauwetter-Ära Jelzins und Gorbatschows nannte er „15 verlorene Jahre“. Diese Zwiespältigkeit spiegelt sich in abgewandelter Form bei der Figur des Rubin in Solschenizyns Roman „Der erste Kreis der Hölle“. Obwohl geschundener Häftling im sowjetischen Lager und begeisterter Leser der klassischen deutschen Literatur, glaubt Rubin weiterhin an den Kommunismus.

So ist denn Solschenizyn nicht ganz schuldlos an dem Phänomen, dass der einstige FSB-(KGB)-Chef Wladimir Putin seine wachsende Tyrannenmacht unter anderem auch vor dem Hintergrund der archaischen Gesellschaftssicht Solschenizyns aufbaut. Präsident Putin verlieh dem Dichter 2007 den Staatspreis der Russischen Föderation (den dieser 1990 in der Ära Gorbatschow noch abgelehnt hatte) vielleicht auch mit Blick darauf, dass der Geehrte zwar 1999 den Einsatz der Nato in Jugoslawien verurteilt hatte, nicht aber den Zweiten Tschetschenienkrieg Putins. „Wie kaum ein Zweiter“, schrieb Mathias Brüggmann im Handelsblatt, „benutzt Putin die Ideenwelt des einstigen Dissidenten Solschenizyn: Dessen Traum von einem anderen Weg für Mütterchen Russland; die enge Anlehnung an die strikte Moral der Orthodoxie seiner Kirche; die harte Hand gegen Russlands Süden, den Kaukasus; vor allem aber den antiwestlichen Kurs für die slawische Heimat.“ Der Dichter habe zwar Anteil am Zusammenbruch der sowjetischen Schreckensherrschaft, aber eines sei er eben nicht gewesen: Vordenker für ein modernes Russland. Stattdessen habe er „die Schlacht der Slawophilen gegen die Westler“ geschlagen.

Mit seinem mächtigen Werk, zu dem auch das zehnbändige opus magnum „Das rote Rad“ über die Oktoberrevolution gehört, reiht sich Solschenizyn würdig in die Reihe der großen russischen Dichter ein und war einer der herausragenden Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Den freiheitsliebenden Leser wird es jedoch befremdlich anmuten, dass ausgerechnet ein Geschundener des Staatsapparates übersehen hat, dass die originäre Freiheitsphilosophie eine dem Westen entstammende Ideenwelt ist und dass der Weg Russlands — bei aller vielleicht berechtigten Besonderheit — schon deshalb nicht vom Westen wegführen darf. In seiner Nobelpreis-Rede hatte Solschenizyn gesagt: „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt.“ Aber er hat nicht klar genug gesagt, dass das entscheidende Wort der Wahrheit die persönliche Freiheit ist.

Literatur von Alexander Solschenizyn (Auswahl)

  • Das rote Rad – (Romanserie, die nur teilweise in deutscher Sprache erschienen ist)
  • Der Archipel Gulag
  • Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
  • Krebsstation
  • Ostpreußische Nächte
  • Schwenkitten
  • Was geschieht mit der Seele während der Nacht?
  • Zweihundert Jahre zusammen, Band 1 – Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1917
  • Zweihundert Jahre zusammen, Band 2 – Die Juden in der Sowjetunion
  • Zwischen zwei Mühlsteinen – Mein Leben im Exil

 


 

Günter Rohrmoser – Nachruf auf einen verkannten Deutschen

Ganz ohne Bezug zu Russland ist der am 15. September 2008 achtzigjährig in Stuttgart gestorbene Philosoph Günter Rohrmoser nicht. 1996 hat ihn die russische Akademie der Wissenschaften als ersten deutschen konservativen Philosophen eingeladen und ein Symposion als Diskussionsforum für seine Ideen organisiert. Ein Jahr später widmete die Akademie ihm ein Kapitel in der „Anthologie der grössten politischen Denker der Welt“. Die geistige Grösse Rohrmosers wurde somit in Russland besser erkannt als in seinem Heimatland, wo sein Bekanntheitsgrad noch immer nicht der Fülle, Tiefe, Bedeutung und Brillanz seiner Werke und Schriften entspricht.

Nach Lehrtätigkeiten in Münster und Köln war Rohrmoser ab 1976 Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Stuttgart-Hohenheim sowie Gastprofessor für politische Philosophie an der Universität Stuttgart.

Während der langen Jahre seines Wirkens blieb die Auseinandersetzung mit der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule (Adorno, Marcuse, Habermas) und den Folgen der sogenannten Achtundsechziger-Revolution das beherrschende Thema Rohrmosers. Er zeigte, wie die „Kritische Theorie“ mehr oder weniger offen oder verdeckt den Marxismus und Kommunismus in der Bundesrepublik wiederbelebt hat und notwendigerweise in den Anarchismus und gesellschaftszerstörerischen Relativismus und Nihilismus fuhren müsse. Konsequent gemäss marxistischer Tradition beansprucht die „Kritische Schule“ die Alleingültigkeit ihrer analytischen Erkenntnistheorie und somit auch das Interpretationsmonopol für die gesellschaftliche Entwicklung und das Sinngebungsmonopol für die herrschenden und anzustrebenden Werte. Obwohl, oder gerade weil, die sozialistische Umwandlung der Wirtschaftssysteme des Westens nicht gelungen war, blieb der Kern des Marxismus erhalten, sein Wunsch nämlich zur Zerstörung des Bürgertums, der Religion, der Familie und aller gewachsenen Bindungen und Autoritäten, denn diese Institutionen stehen dem Aufbau einer zentral gelenkten Massenvieh-Gesellschaft entgegen. Um das Wertegefüge einer Gesellschaft- und damit ihr Ordnungsgefüge ganz generell – aufzulösen, bedarf es einer kulturrevolutionären Veränderung des Denkens. Und hierzu wiederum ist die „Besetzung“ der Begriffe im Sinne einer Uminterpretation die wirksamste Waffe. Deshalb der „Marsch durch die Institutionen“ (vor allem der pädagogischen Hochschulen und der Universitäten) und die Sprachverbote und Gesinnungsgebote der „politischen Korrektheit“.

Enttäuscht, ja verzweifelt, erkannte Rohrmoser, dass die CDU, die sich doch als gesellschaftstragende bürgerliche Partei gerierte, die zerstörerische Tiefendimension des kulturrevolutionären Umbruchs nie verstanden hat und deshalb als gesellschaftserhaltende Kraft zunehmend versagen musste. Das Ausbleiben der von Helmut Kohl angekündigten „geistigen Wende“ empfand er als nationale Katastrophe und hat diese Wende als unerlässliche Bedingung für das Überleben der westlichen Kultur und Freiheit in zahlreichen Büchern und Schriften angemahnt. Vor allem im Christentum sah er hierbei ein Schlüsselelement. Da jede Kultur eines Konsenses über ein religiöses Weltbild bedarf, entsteht mit dem von den Achtundsechziger-Linksintellektuellen betriebenen Verschwinden der Religion ein Vakuum, das sich alsbald mit „politischen Religionen“ totalitären Charakters füllt. So waren auch die bisherigen „Alternativen“ zum Christentum, die Ersatzreligionen des roten, braunen und gelben Sozialismus, allesamt totalitäre Massenversklavungs- und Massenmord-Ideologien. Auch kulturelle Werte, die mit den abendländischen nicht vereinbar sind – wie bspw. der Islam – haben dann leichtes Spiel beim Auslöschen dessen, was Rohrmoser „die Moderne“ nennt. Rohrmosers Sprache war deutlich, oft auch scharf und bissig. In seinem letzten Buch „Kulturrevolution in Deutschland“ schleudert er den dem Achtundsechziger-Geist erlegenen „Christen“ und ihren Predigern entgegen: „Die Knochenerweichung des heutigen Christentums, mit ihrem Geschwätz und Schwachsinn ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.“ Den Theologen warf er vor, sich nicht mehr um die originären Glaubensfragen zu kümmern, sondern vorwiegend um die von Linksideologen politisch korrekt definierten Menschenrechte. „Wir können nicht mehr unterscheiden“, so Rohrmoser, „was gutes und schlechtes Leben ist. Wir haben die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ersetzt durch die Unterscheidung modern und nicht modern. Das ist der Abgrund. Was heisst denn schon modern? Wenn es modern ist, sechs bis acht Millionen Kinder im Mutterleib zu töten, dann kann man nur stolz darauf sein, nicht modern zu sein.“

Noch mehr als seine Schriften aber war Rohrmosers Rede von einzigartiger, ja ciceronischer Brillanz und Architektur. Er konnte sein Auditorium über Stunden in völlig freier Rede fesseln. Seine Sätze mochten noch so lang und verschachtelt sein, stets wurden sie – ohne ein einziges „äh“ – korrekt zu Ende gebracht. In manchen Diskussionen betonte er, dass der Konservativismus heute nicht mehr als Ideologie gegen Sozialismus und Liberalismus verstanden werden dürfe, sondern als Lösungskonzept für die aus Sozialismus und Liberalismus resultierenden Kulturprobleme. Dem klassischen Liberalismus englischen Ursprungs zollte er grössten Respekt und nannte ihn gelegentlich sogar „wunderbar“. Seine Philosophen-Kollegen Hermann Lübbe und Odo Marquard waren der Meinung, dass man die Rohrmosersche Reaktion gegen die neomarxistische Kulturrevolution eigentlich nicht als konservativ bezeichnen sollte, sondern dass sie im klassischen Sinne liberal gewesen sei. Sicher ist, dass auch Liberale in Rohrmosers Büchern tiefe Einsichten in die kulturrevolutionären Kräfte finden, die uns Freiheit versprechen, sie in Wahrheit aber auslöschen.

Literatur von Günter Rohrmoser (Auswahl)

  • Das Elend der kritischen Theorie – Freiburg 1970.
  • Der Ernstfall – Die Krise unserer liberalen Republik – 1994.
  • Emanzipation oder Freiheit – 1995.
  • Geistiges Vakuum – Spätfolgen der Kulturrevolution – 1997.
  • Deutschlands Tragödie – Der geistige Weg in den Nationalsozialismus – 2002.
  • Kulturrevolution in Deutschland – Philosophische Interpretationen der geistigen Situation unserer Zeit – 2008.

aus: eigentümlich frei, Nr. 88, Dez./Jan. 2008/2009, S. 54-56